«Frankreich ist alt, gaullistisch, machohaft und phallokratisch»

Der Philosoph Bernard-Henri Lévy erklärt, warum eine Präsidentin Frankreich gut täte, was die Schweiz für Darfur tun könnte und warum er Bush für einen Dummkopf hält

SONNTAGSGESPRÄCH – 25. März 2007 – SonntagsZeitung, Seiten 29-31

pdficon.jpg

VON MARCO MORELL, ESTHER GIRSBERGER (TEXT) UND ANDREAS REEG (FOTOS)
Screenshot SG LevySie gehörten am Dienstag zu den Organisatoren der grossen Pariser Kundgebung zu Gunsten der Krisenregion Darfur. Was wollten Sie damit bezwecken?
Dass die französischen Präsident- schaftskandidaten sich verpflichten, das Massaker in Darfur endlich zu stoppen. Es war imposant. Tausende kamen…

…und wie viele der drei führenden Präsidentschaftskandidaten?
Zwei. François Bayrou und Ségolène Royal. Nicolas Sarkozy schickte eine Stellvertreterin.

Wem trauen Sie am ehesten zu, Fortschritte in Darfur zu erzielen?
Alle drei haben sich an unserer Versammlung sehr entschlossen gezeigt. Es wäre unehrlich, wenn ich heute behaupten würde, einer von ihnen werde mehr für Darfur tun als die anderen. Ségolène Royal zum Beispiel hat zum Boykott der Olympischen Spiele von 2008 in Peking aufgerufen, falls sich China im Uno-Sicherheitsrat weiterhin gegen eine Verurteilung der Mörder von Darfur sperrt.

Sie sind soeben aus der Region zurückgekehrt. Mit welchen Eindrücken?
Was ich gesehen habe, war schlimmer, als ich befürchtet hatte – mehr Zerstörung, mehr verbrannte Erde, mehr ethnische Säuberung, mehr menschliche Katastrophen.

Wie werden Sie diese Eindrücke verarbeiten?
In einer Reportage für die Zeitung «Le Monde» und für die «New York Times». Ich überschritt vom Tschad aus nachts heimlich die Grenze zum Sudan, in Begleitung einer Rebelleneinheit aus Darfur. Dann reiste ich 400 Kilometer weit durch die Region.

Wie könnte die Lage in Darfur verbessert werden?
Alle Staaten hätten es in der Hand. Auch die Schweiz. Sie ist ein sehr kleines Land, in dem sehr grosse Dinge geschehen können. Sie hat zum Beispiel vor ein paar Jahren die Genfer Initiative im israelischpalästinensischen Konflikt lanciert.

Sie haben diese Initiative mitunterstützt. Heute aber spricht niemand mehr darüber.
Das ist schade. Es war ein guter Plan. Er entsprach dem Wunsch einer Mehrheit in Israel und einer starken Minderheit, wenn nicht gar einer Mehrheit unter den Palästinensern. Aber solche grossen Ideen verschwinden nicht einfach in der Versenkung, sie werden wieder von sich reden machen.

Kehren wir zu den Präsidentschaftskandidaten zurück. Wer von ihnen wird gewinnen?
Ich habe keine Ahnung.

In Ihrem neuen Buch «American Vertigo» sagen Sie voraus, dass Hillary Clinton die nächste US-Präsidentin werden wird. Aber für Ihr Land wagen Sie keine Prognose?
Vielleicht sehe ich die Ausgangslage in den USA klarer, weil der amerikanische Wahlkampf heute qualitativ höherwertig ist als der französische. In Frankreich ist ein «amerikanischer Wahlkampf» im Gang, wie ihn nicht einmal die Amerikaner zu Stande bringen. Damit meine ich einen Wahlkampf des Spektakels, mit vielen persönlichen Attacken.

Wenn Sie schon keine Prognose abgeben, so haben Sie doch zumindest eine Präferenz?
Sicher, ich werde auch selber stimmen gehen.

Für wen?
Wir werden sehen. Ich bin schon immer der Meinung gewesen, dass sich ein Intellektueller so spät wie möglich festlegen sollte.

Es ist schon sehr spät.
Noch nicht zu spät, um weiter Bedingungen zu stellen. Das ist doch der Sinn von Wahlen: Sie wählen den Kandidaten, der am besten auf die Fragen antwortet, die Sie stellen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es wahrscheinlich, dass ich für Royal stimmen werde.

Was würde es für Frankreich bedeuten, wenn zum ersten Mal eine Frau zum Staatsoberhaupt gewählt würde?
Wenn ich für Ségolène Royal stimme, tue ich das nicht, weil sie eine Frau ist. Obwohl sie als Frau diesem Land gut täte. Denn Frankreich ist alt, gaullistisch, machohaft und phallokratisch.

Wieso tun Sie es dann?
Wenn ich für Royal stimme, tue ich das wegen der Haltung, die sie zu Darfur einnimmt und zum Krieg in Tschetschenien. Ich tue es wegen der Art, wie sie über den Terrorismus und den radikalen Islamismus spricht und wegen ihrer entschlossenen Haltung im Atomstreit mit dem Iran. Anders als viele ihrer Gegner finde ich, dass sie ein klares Programm hat.

Es fällt auf, dass Sie nur über die Aussenpolitik reden und nicht über innenpolitische Themen.
Ja. Das entspricht meinem Temperament. Mir ist wichtiger, dass mit dem Gemetzel in Darfur Schluss gemacht wird als mit dem Defizit der französischen Staatsbahnen. Ausserdem bin ich überzeugt, dass ein französischer Staatspräsident in den wichtigen Fragen der Weltpolitik den grössten Bewegungsspielraum hat. Beim Defizit der Staatsbahnen oder bei den Sozialversicherungen sind die Rezepte der verschiedenen Kandidaten ziemlich ähnlich. Niemand hat das Wundermittel.

Von aussen betrachtet, wirkt Frankreich wie ein Land, das jedes Mal umfällt, wenn es versucht, sich zu erneuern. Trauen Sie Frau Royal mehr als den anderen Kandidaten zu, diese Blockade zu durchbrechen?
Ich neige dazu, so zu denken. Schreiben Sie jetzt genau, was ich Ihnen sage! Denn wir reden über etwas, wo es um Nuancen geht. Es gibt keinen idealen Kandidaten. Für wen ich auch stimmen werde, ich werde es nicht mit Enthusiasmus tun. Es gibt aber zwei Themenfelder, auf denen Frau Royal meiner Ansicht nach besser als die anderen positioniert ist: Sie ist eher dazu fähig, Reformen durchzuführen, und sie ist eher dazu fähig, die Bande zu Europa wieder zu kitten, die mit dem Nein zum Referendum über die europäische Verfassung gerissen sind. Royal hat diese seltsame Maschine erfunden, die sie partizipative Demokratie nennt – eine Idee, der ich zu Beginn sehr misstrauisch gegenüberstand und die mich noch heute nicht ganz überzeugt. Aber sie könnte ihr helfen, Reformen durchzubringen, mit denen andere gescheitert sind.

Welchen Beitrag können Intellektuelle wie Sie zur Lösung grosser Weltprobleme leisten?
Ich kann nur für mich selber sprechen. Für mich ist das Wichtigste: hinzugehen und hinzuschauen. Ich habe Darfur gesehen, wie es wirklich ist, und zwar nicht aus der Perspektive des sudanesischen Regimes, eingeengt von den Mördern. Während des Libanonkriegs im letzten Sommer war ein Reflex derselbe: hingehen und hinsehen. Ich besuchte die Städte im Norden Israels, die damals von der Hizbollah bombardiert wurden, diese Phantomstädte, die von ihren Bewohnern verlassen worden waren.

Welche Unterstützung verdient Israel?
Eine bedingungslose. Das heisst auch, dass man sagt, wenn man mit den Akteuren nicht einverstanden ist – was bei mir der Fall ist.

Im Unterschied zu anderen französischen Intellektuellen jüdischen Ursprungs…
…wenn Sie von französischen Intellektuellen jüdischen Ursprungs sprechen, habe ich ein Problem damit.

Trotzdem sei die These erlaubt, dass Intellektuelle mit jüdischem Ursprung Israel gegenüber häufig ein grösseres Verständnis zeigen.
Das ist vollkommener Unsinn! Auf eine solche Debatte lasse ich mich gar nicht ein. Wenn Sie das behaupten, dann haben Sie keine Ahnung von den Intellektuellen. Leute wie Noam Chomsky oder Harold Pinter sind schliesslich alles andere als Anwälte Israels.

Wie würden Sie einem Kind erklären, was Sie als Philosoph den ganzen Tag lang tun?
Es geht darum, andere davon zu überzeugen, dass die einfachen Ideen immer die falschen sind.

Warum?
Weil die Welt kompliziert, weil sie nicht schwarzweiss ist, weil die einfachen Ideen meistens die Ideen der Fanatiker sind, weil die Philosophie den Zweifel miteinschliesst. Es gibt zu viele Leute, die so tun, als hätten sie die Wahrheit gepachtet, als könnten sie die Welt mit einfachen Ideen erklären. Wenn Philosophen einen Nutzen haben, dann den, darauf hinzuweisen, wie komplex die Welt ist.

Aber gerade Ihre Kritiker werfen Ihnen vor, Sie seien zu dilettantisch, zu oberflächlich.
Daran mag etwas Wahres sein. Ich würde aber nicht von Dilettantismus sprechen, sondern von Neugier. Wer sich für alles interessiert, kann in einem bestimmten Gebiet kein Profi sein. Das Gegenteil des Profis ist der Amateur. Das Wort gefällt mir. Ich habe eine grosse Neugier und eine grosse Fähigkeit, mich zu empören.

Die «New York Times» kritisiert an Ihrem neuen Buch, dass das Amerika, das Sie darin beschreiben, ein Amerika ist, das mit dem Alltag der Mehrheit der Amerikaner nichts zu tun hat.
Das stimmt. Genau das ist das Problem der Amerikaner. Ich wäre froh, sie würden ihr Gefängnissystem besser kennen, sie würden sich über das Gefangenenlager in Guantánamo mehr Gedanken machen und über das Erstarken gewisser fundamentalistischer religiöser Strömungen. Es ist oft so, dass der Blick eines Auswärtigen Dinge sichtbar macht, welche die Einheimischen selber nicht sehen.

Im Buch bezeichnen Sie die USA als Modell für eine erfolgreiche Integration von Einwanderern. Was können Frankreich und Europa in dieser Hinsicht von den USA lernen?
Man vergisst manchmal, dass es noch vor vierzig Jahren in gewissen amerikanischen Städten Apartheid-ähnliche Zustände gab. Inzwischen haben die Amerikaner einen guten Mittelweg gefunden im Umgang mit der doppelten Identität von Einwanderern. Das ist der Grund, wieso es dort heute besser funktioniert als in meinem Land.

Liegt das nicht auch daran, dass die USA mehr Druck auf die Einwanderer ausüben, sich zu integrieren?

Nein, es ist genau umgekehrt. Es ist in den USA für einen Einwanderer einfacher, seine kulturelle Identität auszuleben als in Frankreich. Die Amerikaner sagen den Einwanderern, dass sie glauben können, was sie wollen, solange sie sich an die Gesetze halten und Patrioten werden.

Was bedeutet es, ein amerikanischer Patriot zu sein?
An die «Bill of Rights» zu glauben, wie es schon der deutsche Sozialphilosoph Jürgen Habermas formuliert hat. Patriotismus hat nichts mit dem Glauben an eine alte Nation zu tun, die durch gleiches Blut und gleiche Wurzeln verbunden ist. Die Idee, dass man zusammen an dieselben Grundsätze glaubt, gefällt mir sehr. Das ist die beste Art, eine Nation zu sein.

Was bedeutet es für Sie persönlich, ein Patriot zu sein?
Der Begriff «Patriot» gefällt mir nicht. Mein Patriotismus, wenn ich wirklich einen haben muss, bezieht sich auf universelle Grundsätze. Wenn Sie Patriotismus sagen, denke ich an eine Schicksalsgemeinschaft, an eine kollektive Abstammung, worin der Ursprung des Nationalismus liegt. Das missfällt mir.

Sie sind also ein Weltbürger.
Das ist ein etwas veralteter Begriff, der mir zu banal ist. Ich betrachte mich als Europäer französischen Ursprungs.

Wenn man Sie einladen würde, über die Schweiz einen Reisebericht zu verfassen, wie Sie es in «American Vertigo» über die USA getan haben, würden Sie es tun?
Nein, obwohl ich die Schweiz sehr gern habe.

Woher kennen Sie sie?
Auch vom Skifahren und vom Filmfestival in Locarno. Ich kann mich hier gut erholen.

Aber Sie würden nach längeren Reisen durch das Land kein Buch darüber schreiben.
Um ehrlich zu sein, über die USA habe ich ein Buch geschrieben, weil ich das Gefühl hatte, dass sich dort das Schicksal der Welt entscheidet. Über Pakistan habe ich geschrieben, weil es das Zentrum einer Bedrohung ist, die weit über das Land hinausgeht. Ich ging sogar so weit, die Stadt Karachi als den Hauptsitz von al-Qaida zu bezeichnen. Ihr Schweizer könnt glücklich sein. Ihr seid weder der Hauptsitz von al-Qaida, noch entscheidet ihr über Krieg oder Frieden auf dieser Welt.

Der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld warf den Gegnern des Irak-Kriegs in Europa vor, sie verkörperten das «alte Europa». Sehen auch Sie einen Gegensatz zwischen «altem Europa» und «neuem Amerika»?
Nein. Aus dem einfachen Grund, dass das amerikanische Projekt der Neuanfang des europäischen ist. Ich verstehe die Franko- und Europaphobie in Amerika nicht. Die USA wären nicht, was sie heute sind, hätte es das «alte Europa» nie gegeben. Aber ich verstehe auch den Antiamerikanismus nicht.

Gibt es mit allem, was seit dem 11. September 2001 geschehen ist, nicht einige Gründe dafür, antiamerikanisch zu sein?
Welch ein Irrtum! Im September 2001 wurde Amerika angegriffen. Nicht die USA erklärten der Welt den Krieg, sondern eine kleine Nichtregierungsorganisation des Verbrechens, eine Internationale des Terrorismus. Alles, was seither geschehen ist, war eine Reaktion auf diese Aggression. Es gab eine richtige Reaktion in Afghanistan und eine idiotische im Irak.

Präsident George W. Bush sieht das anders.
Sie haben mein Buch gelesen, Sie wissen, was ich von Bush halte. Bush ist ein Dummkopf. Er ist der schlechteste Präsident der USA seit langem. Aber das rechtfertigt den Antiamerikanismus nicht. Antiamerikanismus geht weiter, da geht es um die Verteufelung der USA, ihre Kriminalisierung. Ich war schon immer gegen den Irak- Krieg. Wenn ich aber in Paris Demonstranten schreien höre: «Bush, Sharon, Terroristen!», dann frage ich mich, in welcher Welt ich lebe.

Sie haben den Islamismus einmal als den «dritten Faschismus» bezeichnet. Gehen Sie nicht zu weit, wenn Sie ihn mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus vergleichen?
Nein. Der radikale, «fanatische», terroristische Islamismus, der die Bewohner in Darfur massakriert, weil sie einen gemässigten Islam praktizieren, der Frauen in Pakistan bei lebendigem Leib verbrennt, weil sie eine uneheliche Beziehung hatten – dieser Islamismus ist für mich Faschismus. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen den drei Barbareien, zum Beispiel das Ideal der Reinheit, die Art, in einer Gesellschaft einen Brand zu legen, und das Töten.

Befürchten Sie, dass diese Ideologie eines Tages einen so beherrschenden Einfluss ausüben wird wie der Nationalsozialismus oderder Stalinismus?
Es gibt zumindest Menschen, die das erreichen wollen. Wenn Sie die Texte von al-Qaida und der Muslim-Bruderschaft lesen, stellen Sie fest, dass genau das ihr Ziel ist. Der Jihadismus will die Scharia in der gesamten islamischen Welt einführen. Darin sind sie schon ein ganzes Stück weit gekommen. Und sie wollen Krieg führen gegen die Juden und die Kreuzritter. Der ist bereits im Gang. Ich denke nicht, dass sie siegen werden. Aber genau das ist ihr Ziel.

Bewegen wir uns auf einen Dritten Weltkrieg zu?
Die Jihadisten haben das zum Ziel, und in den USA befürchtet das eine Gruppe von Denkern, die von Samuel Huntingtons These des Zusammenpralls der Kulturen inspiriert sind. Meine Haltung ist, dass wir alles daransetzen müssen, das zu verhindern.

Wie soll das geschehen?
Im Iran zum Beispiel geht es darum, die Zivilgesellschaft zu unterstützen und die Studenten, die den iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad kritisieren. Für einen Franzosen oder einen Schweizer gibt es nichts Wichtigeres, als sich an der Debatte zwischen fanatischen und gemässigten Islamisten konstruktiv zu beteiligen.

Bernard-Henri Lévy ist nicht nur einer der weltweit berühmtesten Philosophen. Der 1948 in Algerien geborene
«BHL» ist auch bekannt für sein gutes Aussehen und seine Kleidung: offenes, weisses Hemd mit elegantem schwarzen Jackett. Lévy ist Essayist, Romancier, Präsident des TV-Senders Arte, Reporter, Autor vieler Bücher und aktiver Kämpfer für Freiheit und Völkerverständigung. Der Vielschreiber wird aber auch heftig kritisiert, weil er es mit seinen Recherchen nicht immer so genau nehme. Lévy ist zum dritten Mal verheiratet und lebt in Paris. Soeben ist sein neustes Buch «American Vertigo» erschienen.

© SonntagsZeitung